Etiketten der Ausgrenzung
Was die Menschen, die wir im Wohnen mit Assistenz (WmA, ehemals AWG) betreuen miteinander verbindet, ist weniger ein vergleichbares Verhalten oder ein gewisses Störungsbild.
Sie teilen vielmehr die Erfahrung, dass sie ihr Zuhause immer wieder verlassen mussten oder erst gar keinen bleibenden Lebensort fanden. Sie gelten als zu „schwierig“, schwer förderbar oder nicht gruppenfähig.
Dies lässt sich nicht allein auf ihr sogenanntes „herausforderndes Verhalten“ oder das Vorliegen bestimmter Störungen reduzieren. Vielmehr erleben wir die Bewohner des Wohnens mit Assistenz als komplexe Persönlichkeiten, die im Verlauf ihres Lebens komplexen Problemen ausgesetzt waren, die sie und wir nicht „einfach so“ entwirren können.
Hinter die Oberfläche schauen
Oftmals stellt es sich bei näherem Hinschauen heraus, dass es gerade die hinter der Oberfläche verborgenen Lebenszusammenhänge sind, die die Besonderheit von Menschen mit geistiger Behinderung ausmachen. Oftmals unterscheidet sich eben vielmehr ihre Lebensgeschichte grundlegend von der unseren. Dies beginnt schon bei der Geburt, wo die Freude über ein neugeborenes Kind von Sorge, Angst und Ablehnung verdrängt werden kann, wenn dieses Kind behindert ist.
Die Lebensgeschichten der Menschen, die in unserem Haus wohnen, sind von teilweise traumatisierenden Umständen geprägt, die von Gewalt- und Missbrauchserfahrungen im frühen Kindesalter über Aufenthalte im Säuglingsheim und andern restriktiven Heimstrukturen bis hin zu mangelhafter medizinischer Versorgung im Säuglingsalter, der Erfahrung ständig wechselnder Lebensorte und Beziehungspersonen und dem Aufwachsen in völlig überforderten und alleine gelassenen Familien reichen.
Ausdruck individueller Lebensgeschichte
Beim genauen Hinschauen verliert der Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“ immer mehr an Bedeutung bei der Beschreibung der Menschen, die bei uns leben.
Dies leugnet nicht, dass die Menschen Einschränkungen haben, unter denen sie auch leiden können.
Nach dieser Sichtweise erscheinen auch die sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen in einem andern Licht. Selbstverletzendes und aggressives Verhalten, lautes Schreien und scheinbar skurrile Tics und Zwänge erscheinen so vielmehr als Ausdruck des persönlichen Umgangs des betreffenden Menschen mit seiner individuellen Lebensgeschichte. So können derartige Verhaltensweisen durchaus als subjektiv logisch und sinnvoll wahrgenommen werden.
Verhaltensweisen als Bestandteil der Persönlichkeit anerkennen
Wenn es gelingt, die Verhaltensweisen der Bewohner als Bestandteil ihrer Persönlichkeit anzuerkennen, wird der Blick frei auf den Menschen, der sich hinter dieser Oberfläche verbirgt. Dann begegnen uns die Bewohner des Wohnens mit Assistenz als Menschen mit enormem Lebenswillen, ansteckender Lebensfreude, Humor, großer Sensibilität, Vertrauensfähigkeit, Kreativität und Wissbegier. Und immer mehr erscheint es so, als wäre genau dies das eigentlich Ungewöhnliche an den Menschen, die hier ihr Zuhause haben. Es taucht die Frage auf, wie dies den Menschen angesichts ihrer Lebensgeschichte überhaupt gelingen kann. Die Authentizität, mit der uns die Bewohner des Wohnens mit Assistenz an ihren Freuden und Nöten teilhaben lassen, rührt uns täglich an und nötigt Respekt und Dankbarkeit ab.
Gemeinsam weiterentwickeln
Gemeinsam mit ihnen stehen wir im Alltag immer wieder vor herausfordernden Situationen, die es zu bewältigen gilt. Dabei haben die Bewohner andere Strategien entwickelt als wir. In unserer täglichen Arbeit sehen wir uns damit konfrontiert, diese Strategien zu verstehen, unsere eigenen zu hinterfragen, festgefahrene Muster aufzuweichen und uns gemeinsam weiterzuentwickeln.